Uwe Landschoof erzählt Dahmer Fischergeschichten aus den 1940er und 1950er Jahren: Wakenfischen, brandschatzende Engländer, Hans Petersens Segelerfahrung und der tragische Untergang des Strandgut-Bootes mit Vater und Sohn Hopp vor Dahmeshöved.
Südwestlich vom Haus „Meerfried“ stand ein Weißdorn von ungewöhnlichen Ausmaßen direkt vor der Abbruchkante des Ufers. Über einem kompakten Stamm, der sich nach etwa eineinhalb Metern gabelte, trug er einen dicht belaubten Schirm. Im Mai war er üppig mit weißen Blüten übersät, die sich im Herbst zunehmend in rote Mehlbeeren verwandelten und ihm so eine leuchtend rote Kuppel in einem komplementären Grün aufsetzte. Seine starken Äste neigten sich in einem weiten Bogen bis fast zum Erdboden. Dergestalt bildete er eine begehbare Baumhöhle, die von außen nicht erkennbar war. Als Kinder spielten wir darin Verstecken oder nutzten sie bei Regenwetter als sicheren Unterschlupf. Eine bedeutsame Funktion erhielt diese Weißdornhöhle in der Zeit nach der Kapitulation 1945. Englische Pionier-Soldaten suchten die Strände der Fischerorte entlang der Küste auf. Den Dahmer Strand befuhren sie von Land aus mit Jeeps oder kamen mit einem Amphibienfahrzeug von See. Mit einer Zugmaschine schleppten sie die Boote zentral am Nord-Strand zusammen, mit ihren Äxten zerschlugen sie die Planken der Boote, übergossen die Fischer- und Segelboote aus großen Kanistern mit Benzin und zündeten sie an. Die trockenen Planken und Hölzer brannten im Nu lichterloh, und schwarze Rauchsäulen stiegen über den brennenden Booten auf. Sie brannten nieder bis auf einen Haufen Asche, in dem sich nur die wenigen eisernen Bootsbeschläge wiederfanden.
Manch alter Fischer (vgl. Abb. rechts mit Fischern auf dem Lögenbarg ) stand auf dem Deich mit geballten Fäusten in der Tasche und Tränen in den Augen, machtlos, in das Geschehen eingreifen zu können. Die Erwerbsquelle der Fischer ging mit den abgefackelten Booten verloren, die Fischer standen vor dem Ruin. In Dahme gab es zu der Zeit nur noch zwei betriebsbereite Fischerboote. Zum Glück gab es in Dahme den Bootsbauer Thomas Babbe, für den wieder Aufträge für Neubauten in die Werkstatt kamen. Wie der Volksmund sagt: „Des einen Not ist des Anderen Brot!“ Das ältere der beiden Boote gehörte Heinz Höppner und lag zur Zeit der zerstörerischen Aktionen der Engländer gut verborgen unter dem Weißdornbaum vor Haus „Meerfried“. Es war ein etwa 3,50 Meter langes flachbordiges Boot, in extremer Rundspant-Bauweise vom Dahmer Bootsbauer Thomas Babbe 1925 gebaut und demzufolge mit stabiler Lage in der See. Es hatte einen Mittelkiel und zwei gleich hohe Seitenkiele, in der Fachsprache ein Kimmkieler. Auf der Kielsohle waren alle drei Kiele mit einem dicken Bandeisen beschlagen, sodass das Boot auf einer waagerechten Fläche plan lag. Daher fand es überwiegend im Winter mit seiner schlittenähnlichen Funktion bei fast durchgehender Eisdecke auf der Ostsee eine besondere Verwendung in einer sehr speziellen Art der Fischerei: das „Waken-Fischen“.
In diesen Eiswintern verblieben sogenannte küstennahe „Waken“ offen, das heißt, es waren offene Wasserflächen, die infolge der oberflächennahen Strömung an der Ecke von Dahmeshöved nicht zufroren. Diese Wasserflächen bildeten für die bis zur Paarungszeit verweilenden Seevögel, vorwiegend Eiderenten und Entenarten aus polarnahen Brutgebieten, die einzigen Futterplätze. In diesen Waken tauchten sie tagsüber nach Futter, nachts schliefen sie an den festen Eisrändern der Wake. In diesen Waken setzen einige Fischer ihre sogenannten „Vogelnetze“ aus. Es waren
großmaschige Netze mit weiten Sprungmaschen, in denen sich die Entenvögel, besonders die größeren „Swartvoageln“, dunkelgefiederte weibliche Eiderenten, verfingen und ertranken. Aus heutiger natur- und artenbewusster Sicht ist diese Fangmethode undenkbar und strafbewehrt – erfreulicher- und notwendigerweise! Zu der damaligen Zeit mit großem Nahrungsmittel- und Fleischmangel waren diese Enten als Beifang neben den Dorschen begehrte Handelsware. Not kennt kein Gebot! Vor ihrer Verarbeitung in der Küche wurden die toten Enten nach dem Fang mehrere Tage bis zu einer Woche an einem hohen sicheren Platz in der Kälte aufgehängt. Danach wurden sie zum Auftauen nach drinnen geholt und abgezogen. Die mit tranigem Fett getränkte und befiederte Haut wurde nicht verwendet. Aus den „Swartvoageln“ wurde ein WildentenBraten mit kräftiger brauner gebundener Soße, der in dieser an Nahrungsmitteln knappen Zeit für mindestens zwei Mahlzeiten reichen musste.
Das zweite Boot in Dahme war ein im zeitigen Frühjahr 1945 küstennah vor der Ecke von Dahmeshöved treibendes, etwa 4 Meter langes Arbeitsboot mit Spiegelheck. Später strandete es an der Ecke. Es war namenlos und trug keinerlei Kennzeichnungen oder Registrierungsnummer, war vermutlich von einem in diesen Kriegswirren mit Ostflüchtlingen aus der Danziger Region beladenen Frachtschiffen abgängig. Es hätte dem Strandvogt Otto Plön in Dahme als besonderes Strandgut gemeldet werden müssen, der dann umgehend dem Strommeister Steingräber des Wasserschifffahrtsamtes in Heiligenhafen zur Meldung verpflichtet gewesen wäre. Beide Meldungen unterblieben aus eigennützigen Motiven. Das Boot verblieb in rechtswidriger Weise im Besitz des zweiten Leuchtturmwärters Hans Petersen. Die beiden Frauen Erna Theopold und Else Hackenjost, seit 1937 Besitzerinnen eines Hauses an der Ecke von Dahmeshöved, hatten Hans Petersen den Fund des Ruderbootes am Strand vor ihrem Grundstück gemeldet. Dieser eignete es sich an und versprach den Damen als „Finderlohn“ eine Segelpartie bei gutem Wetter. Das seiner Meinung nach gute Wetter mit Sonnenschein, aber auch kräftigem böigen Westwind stellte sich bald danach ein. Hans lud die Damen wie versprochen zu einer kleinen Segeltour während seiner wachfreien Zeit ein, diese aber lehnten ab. Mich hatte er auch mitnehmen wollen, aber meine Mutter hatte es untersagt. Hans Petersen, gelernter Schmied und kein Fischer oder Seemann, stattete das Boot „gehörig“ aus mit 2 Bootsriemen (Rudern), einer dicken Bohnenstange als Mast und einer Dreiecks-Zeltplane als Segel. Er takelte im Windschatten des Steilufers auf, schob das Boot bis fast ins Wasser, stieg ein und stakte sich mit einem Bootsriemen auf freies Wasser. Dann setze er sich auf die Ducht am Heck und segelte küstennah bei gekräuseltem Wasser ohne Welle im Windschatten der Steilküste Richtung Dahme. Bei flacher werdender Küste taten Wind und nordostwärts setzender Strom ihre Wirkung und beschleunigten die Fahrt des kleinen Bootes. Der Segelneuling Hans Petersen entfernte sich zunehmend von der Küste, segelte vorbei an Dahme und Rosenfelde.
Der Leuchtturm und die Ecke von Dahmeshöved waren bedenklich kleiner geworden. Petersen wollte umkehren, wusste aber nicht, wie es segeltechnisch zu machen war. Dann fiel eine kräftige Bö ein, das Boot krängte stark legte sich also stark auf die Steuerbordseite.
Mit trockenem Knacken brach die dicke Bohnenstange, und, Pech über Pech, es ging auch noch ein Riemen über Bord. Nun war Holland in Not! Zum Rudern fehlte jetzt der zweite Riemen; Hans hatte keine Chance mehr auf Umkehr oder seinen Kurs zu bestimmen. Jetzt war er Spielball von starkem, böigem Westwind, Strom und größer werdender Welle. Das Boot trieb schnell, mit dem verbliebenen Riemen steuerte er angstbesetzt und hielt auf die sichtbare Südküste von Fehmarn zu. Er erreichte knapp die Ecke von Staberhuk, der Leuchtturm dort war dem zweiten Leuchtturmwärter von Dahmeshöved ein sicherer Wegweiser gewesen. Am Leuchtturm Dahmeshöved war die Aufregung in seiner Familie und auch bei uns groß, als es später Nachmittag wurde und von Hans Petersen noch immer nichts zu hören und zu sehen war. Als mein Großvater davon erfuhr, ging er auf die Galerie des Leuchtturms und suchte mit dem Fernglas das Wasser nach dem Boot ab, ohne Erfolg. In dieser Situation von totaler Ungewissheit gab es alle möglichen Spekulationen, bis zum Tod durch Ertrinken. Abends kam bei ihm der erlösende Anruf: sein zweiter Wärter war, Glück im Unglück, auf Fehmarn gelandet und inzwischen in Burgstaaken angekommen. Er sagte zu, schnellstmöglich nach Hause und zum Dienst zu kommen. Mein Großvater organisierte die Wachvertretung mit dem Hilfswärter Gustav Schwarz. Zwei Tage später war Hans wieder da, mit Boot. Er hatte sich von einem befreundeten Fischer aus Burgstaken nach Dahmeshöved schleppen lassen, das Boot reichlich beladen mit Gemüsepflanzen aus der dortigen Gärtnerei. Seitdem hieß er bei uns „Hans im Glück“. Später einmal hat er es zugegeben: Auf dieser ersten und letzten Bootstour hatte er Schiss, auch in seiner Hose, randvoll. Hans Petersen war kein see- und wassererprobter Mann, obwohl er in Burgstaaken auf Fehmarn, also unmittelbar in Ostseenähe am FehmarnSund geboren wurde. Jene erste und einzige Reise flößte ihm Respekt und Scheu vor der See ein, sodass er auf eine weitere Nutzung verzichtete und das Boot den Fischern Friedrich und seinem Sohn Kurt Hopp gegen Zahlung in Naturalien, sprich Fisch aus dem Fang überließ.
Zur Zeit der planvoll revanchistischen und existenzvernichtenden Zerstörung der Fischerboote nach der Kapitulation am 8. Mai 1945 durch englische Besatzungs-Soldaten hatten die Hopps zwei Verstecke für das bislang nicht entdeckte Boot. Hans-Jörgen Prühs, Sohn des Nachbarfischers Hans Prühs und Haus an Haus wohnend, berichtete vom erstgenutzten Versteck. Die Hopps hatten das Boot unter Mithilfe der Nachbarn über den Deich hinterm Haus zu sich auf den Hinterhof gezogen. Dort hatten sie es mit leichter Neigung gegen die Hauswand gelehnt. Vor und über dem Boot hatten sie eine Wand aus Strohballen errichtet, sodass es wie ein Strohdiemen aussah. Die englischen Soldaten suchten küstennah auf den Höfen nach verborgenen Booten. So stocherten sie auch mit ihren Bajonetten im Strohdiemen auf Hopps Hinterhof. Entweder waren die Strohballen zu dick oder die Bajonette zu kurz. Das Boot entdeckten sie nicht. Die Hopps nahmen an, dass das Nachspüren der Engländer nun endlich vorbei sei, und fischten mit diesem Boot weiter. An einem Frühsommertag 1945 bemerkte Sohn Arnold von seinem Platz auf dem Deich ein englisches Patrouillenbot um die Ecke von Dahmeshöved kommen, das mit küstennahem Kurs auf Dahme zulief. Er benachrichtigte sofort seinen Vater und den Nachbarn Hans Prühs. Mit vereinten Kräften und in großer Hast hoben sie am Strand neben dem Boot eine passgerechte tiefe Grube aus, in der sie das Boot platzierten. Die Natur und die Ostsee spielten ihnen zeitgerecht die „Zutaten“ für eine geniale Lösung zu. Am Strand gab es eine Algenschwemme, in Saisonzeiten von den Kurgästen als Algenplage betrachtet und bewertet. Den Hopps kam diese unerwartete natürliche Situation gerade recht. Ohne Zögern verfüllten sie das Boot innen mit Rot- und Braunalgen und passten die Abdeckung mit diesen Algen dem übrigen Strandbild an, wie es Jürgen Warncke als Junge wahrgenommen hat. Es gab kein wahrnehmbares Boot mehr, noch verräterische Spuren davon. Bis zum Landen der Engländer blieb ihnen noch Zeit, vom Hof des Fischers Hans Prühs drei Paddelboote mit Hilfe des einquartierten Verwandten Pohlmann hinter den Knick der Koppel des Bauern Otto Mumm zu tragen und dort zu verstecken. Heute befindet sich dort der östliche Parkplatz des Kamplandes an der Straße nach Dahmeshöved. Als dann ein englischer Marineoffizier mit zwei Marinesoldaten mit ihrem Beiboot an Land kamen, am Strand kein Boot zu sehen war, kam der Offizier deichaufwärts auf den Hof und suchte ohne Erfolg. Die beiden Mariner blieben zur Bewachung neben ihrem Boot stehen, Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett über der Schulter. Nach nur kurzer Zeit ruderten die drei Engländer zu ihrem Patrouillenboot zurück. Danach gab es keine Überraschungsbesuche durch die Engländer mehr.
Es gab keine offizielle Erklärung der englischen Besatzungsmacht unmittelbar nach Kriegsende für dieses hartnäckige Suchen, Aufspüren und Vernichten der Fischerboote. Anstatt der primären Annahme einer unmittelbaren Existenzvernichtung könnte auch die Verhinderung einer Flucht von ehemaligen Wehrmachtsangehörigen aus dem sogenannten „Kral“ Motivation für die planvolle Vernichtungsaktion gewesen sein. Letztere Annahme scheint eher begründet, möglicherweise auch als „Dienstanweisung“ aus zurückliegender Kriegserfahrung entstanden zu sein, wenn auch als Ereignis in einem früheren Krieg. So berichtet Dr. Arthur Obst vom Haus „Meerfried“ in Dahmeshöved in seinem Tagebuch aus dem Kriegsjahr 1914 über die Flucht von Kriegsgefangenen: „Eines schönen Tages trug es sich zu, dass sechs Gefangene aus Grube und einer aus Dahme einen Fluchtversuch machten; sie feilten mit einem Stein die Kette vom Boot des Schleusenmeisters durch, trugen den Kahn über die Schleuse und schipperten mit Schaufeln auf die hohe See hinaus. Als die Sonne aufgehen sollte, trat Nebel ein, das Boot füllte sich mit Wasser, und das Ende vom Liede war, daß sie jämmerlich um Hilfe schrien. Dahmer Schiffer hörten sie, nahmen sie gefangen und lieferten sie der Wache ab.“
Braunalgen und Rotalgen wuchsen als Makro-Algen am Grund, besonders mit ihren Haftplatten auf kleinen und großen Steinen in belichteten Tiefen bis zu 20 Meter vor der Küste vom südlichen Dahme bis zum Schwarzen Grund hinter der Ecke von Dahmeshöved.
Nach intensiven und länger anhaltenden Stürmen werden die Algen von den Grundseen losgerissen, oft in großen Mengen an den Strand getrieben und von den Wellen aufgeschichtet. Sie können dicke Lagen bilden und nach längerem Liegen Fäulnis entstehen lassen, sodass sie an der Strandkante einen penetranten Geruch verursachen. Betroffene Sommergäste klagten dann zu Hauf bei der Kurverwaltung, die dann aktiv werden musste. Es hat in manchen Sommern immer wieder Zeiträume gegeben, in denen die Bauern mit ihren Leuten und Fuhrwerken die Algenmassen als kostenlosen Dünger vom Strand abgefahren, auf ihren Äckern ausgestreut oder hinter den Knicks zu sogenannten „Mieten“ aufgesetzt haben. Dann war der eindringliche Fäulnisgeruch vom Strand entfernt. Dennoch trugen geruchsempfindliche Spaziergänger „die Nase hoch“! Als die Engländer abgerückt waren und keine Rückkehr mehr befürchtet wurde, gruben die Hopps das Boot aus und setzten es in der Fischerei ein. Ob noch im selben oder erst im nächsten Jahr ein Streit zwischen Friedrich Hopp und Hans Petersen ausbrach, ist zeitlich nicht sicher einzuordnen. Jürgen Warncke erinnert sich jedoch an den Verlauf der Streitigkeiten, bei denen er zugegen war. Hans Petersen war der Meinung, dass er nicht reichlich und gleichwertig mit Fischlieferungen für das Boot versorgt worden war. Bei dieser Annahme hatte er sich mit seinem Pferd auf den Weg zum Dahmer Liegeplatz des Bootes gemacht und versucht, es mit Hilfe von Robert Fach über den Strand nach Dahmeshöved zu schleppen. Der jüngste Sohn Arnold Hopp bemerkte diese Aktivitäten und rief seinen Vater Friedrich zum Ort des Geschehens. Es ergab sich eine längere Auseinandersetzung mit versuchter Gewichtung von Bootswert und angemessenem Gegenwert der Fischlieferungen. Am Ende gab es von Hopps Seite eine Androhung von handgreiflicher Gewalt, sodass Hans Petersen und Robert Fach nachgaben und mit dem Pferd, aber ohne Boot den Rückweg nach Dahmeshöved antraten. Am nächsten Tag in der Schule behauptete der Sohn Arnold Hopp gegenüber Jürgen Warncke, dass Hopps mehr als genug Fisch an Hans Petersen geliefert hätten. Hans Petersen fand sich hadernd, aber ohne weitere Ansprüche mit dieser Lösung ab. Die Fischer Vater und Sohn Hopp behielten das Boot.
In einer schicksalhaften Wendung fuhren die beiden am 25. April 1957 in diesem Boot vor der Ecke von Dahmeshöved in den Tod. Diese Nachricht erhielt ich mit der Briefpost meiner Mutter an Bord der GALTGARBEN im Sommer 1957 in Casablanca, wohin wir eine Schüttgutladung Mais aus Genua gebracht hatten. Ich schrieb sofort einen Brief an seine Witwe Meta Hopp mit einer Beileidsbekundung und meinen positiven Erinnerungen an die beiden Ertrunkenen, der noch am selben Tag mit der Schiffspost zum Agenten ging. Dieses tragische Unglück ist mir bis heute nicht aus dem Kopf gegangen. Um es in seinem Verlauf korrekt darzustellen, habe ich im Laufe der Jahre alle verfügbaren Informationen von Zeitzeugen, insbesondere die Wetterdaten des Deutschen Hydrographischen Instituts in Hamburg (DHI) zusammengetragen (Tabelle S. 136). Am 24.4.1957 um die Mittagszeit (DHI) wehte bei leicht bedecktem Himmel und einer Temperatur von etwa plus +7° C ein Nordostwind mit einer Stärke von 3 Beaufort (Bft.). Bei Seegang 2 mit mäßig zunehmender Welle waren Kurt Hopp und Jörg Domagk, damals Student an der Tierärztlichen Hochschule Hannover, mit dem kleinen Arbeitsboot wegen vorausgesagten Starkwindes zum Aufholen der Buttnetze auf den Sandgrund etwa 200 Meter vor der Ecke von Dahmeshöved gerudert. Während Jörg nach dem Einholen des Steders (Markierungsfahne) ruderte, holte Kurt Hopp die Netze Hand über Hand ein. Es war schweres Einholen, weil die aus Baumwolle geknüpften Netze intensiv Wasser aufgenommen hatten und stark mit Braunalgen durchsetzt waren. So brachten sie auch viel Seewasser mit ins Boot. Durch dieses zusätzliche Gewicht tauchte der Bootsrumpf schnell tiefer ein. Jörg warnte Kurt und riet ihm, die aufgeholte Netzpartie an Land zu bringen. Dieser missachtete zunächst die Warnung, sah aber das Wasser im Boot steigen. Um das Wasser auszuösen (auszuschöpfen), war kein geeignetes Gefäß an Bord. Ersatzweise griff Kurt sehr zur Verärgerung von Jörg zu einem seiner neuen Reitstiefel, die dieser, um sie vor Salzwasser zu schützen, ausgezogen und auf die vordere trockene Bootsducht gelegt hatte. Jörg warnte weiterhin und bestand mit Erfolg darauf, dass sie an Land ruderten, nicht ohne den leichtfertigen Kommentar von Kurt Hopp zu überhören: „Jörg, wenn wi affsupt, goaht wi tau Faut ünner Woater noa Huus“.
(Bild: Fischgründe vor Dahmeshöved)
Am nächsten Tag konnte Jörg nicht helfen, den Rest der Netze einzuholen, weil er an der Hochschule den Vortrag eines Gast-Professors über Mikrobiologie hören wollte. So entschieden sich Vater Friedrich Hopp und Sohn, die in See verblieben Netze aufzuholen und in Dahmeshöved an Land zu bringen. Auf dem Weg zum Bootsliegeplatz in Dahmeshöved begegneten ihnen die Fischer Otto Severin und Julius Barkmann, die ihr Boot ebenfalls in der Bucht hinter der Ecke liegen hatten. Es war bei den letzten Dahmer Fischern nach dem Zweiten Weltkrieg üblich, dass sie nach Ankündigung von Starkwind und Sturm aus östlichen Richtungen ihre Boote auf die Leeseite der Ecke von Dahmeshöved verlegten. Am 25.4.1957 hatte der Wind gegenüber dem Vortag in der Zeit von 07:00 Uhr morgens von annähernd Nordost auf Ostnordost gegen 14:00 Uhr gedreht und auf 5 Windstärken Bft. mit Seegang 4 zugenommen. Otto und Julius, die ihre Fischerei gar nicht erst begonnen hatten und sich mit ihren Fahrrädern auf dem Rückweg nach Dahme befanden, rieten den Hopps, ihre Netze liegen zu lassen. Als die beiden Hopps weiter zu ihrem Boot fuhren, trafen sie auf den Postboten Max Klütmann, der in seinem Garten arbeitete. Max hatte das „siebte Gesicht“ und war als „Spökenkieker“ bekannt. Er riet den beiden Hopps eindringlich vom Ausfahren ab und sagte ihnen, dass er etwas Dunkles, für sie beide Bedrohliches mit fatalem Ausgang gesehen habe. Sie taten seine Bemerkungen mit den Händen abwinkend ab, hörten nicht weiter auf ihn und fuhren aus zum Aufholen der restlichen Netze. Wann und von wem das Verschwinden des Bootes bemerkt und gemeldet worden ist, kann nicht mehr exakt ermittelt werden. In der Broschüre „14. Dahmer Fischerbudentreff 06.09. bis 07.09.1997“ wird erwähnt, dass die beiden Fischer Fritz und Heinz Höppner um die Zeit des Unterganges in Dahmeshöved gewesen seien und die Hilferufe der beiden Hopps gehört haben sollen. Die beiden Höppner hätten nicht mehr rechtzeitig mit ihrem Boot zur Hilfe kommen können. Diese beiden Höppner, Onkel Fritz und Neffe Heinz, waren selbst Betroffene und Leidtragende des tragischen Berufsunglücks vom 31.12.1928. Der damals ertrunkene Wilhelm Höppner war der ältere Bruder von Fritz Höppner und der Vater von Heinz Höppner. Mit großer Wahrscheinlichkeit ist anzunehmen, dass Max Klütmann zuerst das Verschwinden des Bootes bemerkte, zumal er durch seinen Traum von einem düsteren Ereignis für die Hopps unter wachsamer Spannung stand und telefonisch den Alarm ausgelöst haben könnte. Als mein Bruder Jens mittags aus der Schule kam, bemerkte er auf dem Nachhauseweg im Unterdorf, besonders in der Leuchtturmstraße, eine ungewohnt aufgeregte Atmosphäre: Die Straße war belebt, Leute standen vor den Häusern zusammen und redeten gestikulierend miteinander. An diesem Tag waren zu dieser Jahreszeit ungewohnt viele Leute unterwegs nach Dahmeshöved. Dort selbst sah Jens vor der Küste der Ecke von Dahmeshöved in Richtung Kellenhusener Bucht Schiffe und Motorboote unterschiedlichster Größe hin- und herfahren, vor allem die durch ihre regelmäßigen Patrouillen bekannten Boote des Seegrenzschutzes vom Stützpunkt Neustadt/Holstein. Irgendwann vernahm er aus den aufgeregten Gesprächen, dass die beiden Hopps, Vater und Sohn samt Boot vermisst wurden. Die nachhaltige, bis in die Dunkelheit anhaltende Suche auf See blieb erfolglos. Gegen Abend fand der jüngste Sohn Arnold seinen Vater etwa 700 Meter hinter der Ecke tot im Flutsaum vor dem Pumphaus. Die Leiche des ältesten Sohnes Kurt Hopp wurde etwa vier Wochen später südlich der Dahmer Schleuse gefunden. Alle, die Kurt kannten, hatten ihm eher als dem Vater eine Überlebenschance zugetraut. Er war als sehr guter Schwimmer bekannt und war aus vielen überregionalen Schwimm-Meisterschaften in Schleswig-Holstein als Sieger hervorgegangen. Es war aber auch bekannt, dass er eine Neigung zur Leichtfertigkeit hatte und diese bisweilen auch auslebte. Dennoch: derartige Annahmen sind und bleiben landläufige Meinungen ohne das Fundament der wissenschaftlichen Faktenlage.
Die realen hirnphysiologischen Funktions- und Wirkzusammenhänge beim Ertrinken sind durch viele wissenschaftliche Untersuchungen belegt und abgesichert worden. Zudem ist in Erinnerung, dass Fischer zur damaligen Zeit keine wasserdichte Schutzbekleidung getragen haben. Ihre Arbeitskleidung war alltägliche Konfektionsbekleidung, meistens ursprünglich dunkelblaue Joppen, die im Laufe von Jahren durch Seewasser und Sonne verblichen und ihre eigene Patina erhielten. Die großen Knöpfe an den Joppen und Öl-Jacken boten den Angelschnüren, besonders aber den Maschen der Netze Widerstände und ständige Gelegenheit zum Verhaken und Hängenbleiben. Unreflektiert bis zum Ernstfall. Selbst bei den Berufsgenossenschaften gab es diese Einsichten und eine entsprechende Prophylaxe noch nicht. Der Slogan „Gefahr erkannt – Gefahr gebannt“ war noch nicht in der Welt. Trotz aller Vertrautheit mit der Ostsee und den ausgebildeten Anlagen für einen Leistungsschwimmer bestimmt in einer derartigen Extremsituation des Kenterns die funktionale Reaktion des Nervensystems auf die Kälte im Wasser von etwa +7° C die Abläufe der Körperfunktionen. Nach dem Kentern und damit plötzlichen Eintauchen in kaltes Wasser treten durch die unmittelbar veränderten physiologischen Wirkkräfte neue körperliche Zustände auf, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten nach dem Unfall zum Tod führen können. Zunächst erfolgt nach dem abrupten Eintauchen in das kalte Ostseewasser als Sofort-Reaktion ein Kälteschock durch den Kältereiz auf die Haut, bei dem nach einer Tiefatmung eine beschleunigte Atmung, eine sogenannte unkontrollierte Hyperventilation einsetzt. Die Atmung läuft drei bis viermal so schnell wie im Ruhezustand ab. Kann der Mensch im Ruhezustand etwa eine Minute lang den Atem anhalten, so vermindert sich diese Fähigkeit beim Einatmen in kaltem Wasser auf etwa 10 Sekunden und weniger. Dieser Zustand kann innerhalb von 3 bis 5 Minuten zum Tod führen. Kältebedingte Funktionsstörungen von Nerven und Muskulatur durch schnelles Herunterkühlen des Gehirns können durch Untertauchen im eiskalten Wasser das Ertrinken begleiten. Durch den Kältereiz auf der Haut kommt es gleichzeitig zur Verengung der Blutgefäße in der Haut. Der Wasserdruck auf die Gliedmaßen (Extremitäten), insbesondere auf die Beine, bewirkt eine Verschiebung des Blutvolumens (Blutmenge) in den Brustkorb und zum Herzen. Ein Ansteigen von Stresshormonen kann eine Herzrhythmusstörung auslösen, die zur Bewusstlosigkeit mit Tod durch Ertrinken führen kann.
Der Kälteeinfluss auf die Muskulatur und Nerven kann zum Schwimmversagen führen, was innerhalb von 5 bis 30 Minuten nach dem Eintauchen ins kalte Wasser zum Tode führen kann. Nach der Haut kühlen Nerven, Muskulatur und die Gliedmaßen ab. Arme und Beine besitzen eine große Oberfläche, die verengten Blutgefäße können der Haut kein Blut zur Wärmeproduktion heranführen. Dadurch wird auch erheblich die Funktion der Hände und Beine eingeschränkt. Es können keine koordinierten Schwimmbewegungen mehr ausgeführt werden. Durch die zunehmend weniger funktionierende kalte Muskulatur sinkt der Schwimmer aus der horizontalen Lage in die vertikale Lage ab. Er sackt sozusagen aus der Schwimmlage ab, kann den Kopf nicht mehr über Wasser halten und erleidet durch das Schwimmversagen den Tod durch Ertrinken.
Über den Hergang des tragischen Todesfalls der beiden Fischer Friedrich und Kurt Hopp als Opfer eines nicht ungefährlichen Berufes, wie es nicht nachhaltiger verdeutlicht werden kann, gibt es keinen Augenzeugen. Bei der Gewichtung aller Daten bleiben die extrem abweichenden Leichenfundorte und der zeitlich lange Abstand zwischen dem Auffinden der Leichen der beiden Ertrunkenen schwer erklärlich. Der Fundort des Vaters am Strand vor dem Pumphaus lag etwa 1.000 Meter südwestlich vom angenommenen Untergangsort entfernt. Er wurde schon am frühen Abend desselben Tages vom jüngsten Sohn Arnold gefunden. Die Fundstelle passt zu den Windverhältnissen mit 5 Bft. aus 060° und dem Strömungsverlauf nach der Strömungskarte für die Lübecker Bucht (Abb. 5, S. 136). Entsprechend den meteorologischen Daten wäre die Annahme begründet gewesen, dass die beiden wohl etwa zeitgleich Ertrunkenen auch zeit- und ortsnäher an den Strand getrieben worden wären. Der Sohn Kurt aber trieb erst nach etwa vier Wochen ca. 5 Kilometer nördlich der Untergangsstelle südlich der Dahmer Schleuse an. So ist anzunehmen, dass nach dem Untergehen ein Ereignis eingetreten ist, das im Bereich des Spekulativen bleibt, aber ursächlich für das nach Raum und Zeit unterschiedliche Verdriften gewesen sein muss. Vielleicht hat eine verhakte Netzmasche an seinem Jackenknopf seinen langen Weg unter Wasser bestimmt. Das Boot mit den Netzen ist weder angetrieben noch nach langer Suche wieder aufgefunden worden. Die ganze Geschichte um das Boot mutet recht makaber an. Es kam aus dem Irgendwo und verschwand im Nirgendwo. Man kann das Geschehene auch mit Dr. Murphy`s law begründen: „If anything can happen it will happen! – Wenn etwas geschehen kann, wird es geschehen!“ Vater und Sohn Hopp wurden in einem Gemeinschaftsgrab auf dem alten Gruber Friedhof bestattet.