Von seinem jüngeren Bruder gefragt, welche Farbe denn die Geschirrhandtücher der Marine auf der Funkmessstelle in Dahmeshöved hatten, dachte sich Uwe Landschoof, dann könnte er ruhig die ganze Geschichte erzählen.
Uwe ist als Sohn und Enkel von Leuchtturmwärten in Dahmeshöved aufgewachsen und gibt uns hier Einblick in ein faszinierendes Stück Zeitgeschichte.
Hier erzählt er sechs Geschichten aus der Zeit gegen Kriegsende und nach der Kapitulation 1945. Einige davon werden noch heute im Dorf erzählt.
Erinnerung ist nun gefragt!
Versuch einer Darstellung der Ereignisse und ihrer Abläufe in Dahmeshöved während der Zeit des 2. Weltkrieges und der Zeit nach der Kapitulation am 8. Mai 1945
Marine Geschirrhandtücher
Moin, moin, Jens,
Maxe Köhler war eine imposante Erscheinung, wenn er auch klein geraten war: Er hatte ein immer leicht gerötetes Gesicht, das dem vom sächselnden Schauspieler Gerd Fröbe recht ähnlich war, dazu hatte er einen kurz gehaltenen Stoppelhaarschnitt. Auf jeden Fall konnte ihm als Koch kein Haar in die Suppe fallen, und die Kameraden hatten somit keinen Anlass zum Meckern. Meistens jedoch trug er statt einer Kochmütze ein weißes sogenanntes Schiffchen. Er trug Tag für Tag dieselbe Arbeitskleidung: eine weiße Drillichhose, darüber ein weiße Drillichjacke, deren Revers er meistens nach innen gerollt hatte, so dass nackte Brust das Bild seines Oberkörpers bestimmte. Die Jackenärmel waren immer bis zu den Ellenbogen aufgekrempelt. Als Schürze trug er ein weißes Drillich-Handtuch mit einer breiten roten Bordüre an einem Ende, in die die Aufschrift „Kriegsmarine“ eingewebt war. !!!!! Das Handtuch wurde von einer Kette analog der alten Spülkasten-Ketten gehalten. Vor dem Umbinden rollte er die rote Breitseite des Küchenhandtuches mit der Aufschrift „Kriegsmarine“ ein paarmal um die Kette; das so zum Küchenschurz umfunktionierte Handtuch legte er sich um den recht rundlichen Leib und sicherte mit seinen kurzen Armen hinter seinem Rücken einen Haken in dem gewünschten Glied der Kette. Seine Füße und Hosenbeine steckten immer in kurzen weitschäftigen Knobelbechern. Insgesamt machte er das Bild der gelungenen Karikatur eines freundlich-fröhlichen Kochs.
Zu fortgeschrittener Mittagszeit, wenn der Nachtisch ausgegeben wurde, war ich, mitunter auch mit Klaus, seltener mit Elke und Klaus unabweisbar an der Kombüsen-Tür, um im Regelfall den Grießpudding mit dickflüssigerem Saft zu erbitten. Mitunter gab es auch Schokoladen- oder Vanillepudding mit Vanille- oder Schokoladensoße. Maxe war freigiebig, wenn wir aber zum zweiten Nachschlag anstanden, wurde er abweisender mit betonterem Stimmumfang und rief in kernigem Sächsisch: "Machet mich forrt, Ihr Prinzen!" Dann wurde es Zeit zum Rückzug nach einem süßen Nachtisch.
Wenn er gut gelaunt war, konnte ich ihn mit Erfolg zum Rezitieren eines seiner Lieblingssprüche animieren, oftmals mit hartnäckig aufdringlicher Bettelei. Dann nahm seine Mimik einen verschwörerisch listigen Zug an, er hob die Schultern, so dass der Eindruck eines eingezogenen Nackens entstand, beugte den Oberkörper vor und rezitierte: "Mutter, das Kind muss mal kacken, hat schon dreimal "Pfttt" gemacht; kommt die Mutter mit dem Lappen, wischt dem Kind das "Pfttt"-Loch ab." Dann machte er mit beiden Armen heftige Scheuch-Bewegungen nach vorwärts-seitwärts - und ich musste schleunigst verschwinden, denn es war ihm bewusst geworden, dass er mir wieder ungewollt auf den Leim gegangen war.
Die Saft-Soßen zum Pudding stellte er durch Verdünnen der dickflüssigen Fruchtsirups mit Leitungswasser her. Bei der Herstellung von Schokolade- und Vanille-Soße gab es auch einen Milchanteil. Oftmals sorgte Jörg Domagk für den Milchanteil. Er musste immer abends nach dem Melken bei Tante Anna (Anna Behnke, Hauswirtschafterin im Haus SEEFRIEDEN) 2 Liter Milch abholen. Maxe passte Jörg regelmäßig an der Kombüsen-Tür ab; dort wurde dann das Geschäft vollzogen: Die Hälfte der frischen Milch wurde in Maxes Kanne gegossen, der nun fehlende Teil wurde durch Wasser aus der Leitung ersetzt. Wie und ob die Eltern und Geschwister Domagk den Geschmack der gepanschten Milch wahrgenommen haben, weiß ich nicht. Da es regelmäßig passierte, die Milch jeden Abend gepanscht wurde, könnten die Geschmacksnerven der Domagks neu konditioniert worden sein. Ich will Jörg dazu befragen.
Ist die Frage nach Verwendung eines Handtuches mit roten oder blauen Streifen damit hinreichend beantwortet?
Marinegold schleudern
Wenn schon über Maxe Köhler, dann auch gleich alles Erinnerbare, auch über andere der Funk-Mess-Truppe, bevor es in meiner Erinnerung verblasst.
Nach der Kapitulation am 8.5.1945 und am Tag danach waren alle Soldaten der Funk-Mess-Stelle intensiv mit ihrem "Abrücken" beschäftigt. Ich erinnere manche Bilder, wie sie vom Gelände zogen. Bis dahin betrieb Maxe Köhler in der Kombüse noch seine Regelversorgung. Es bestanden noch die zuvor praktizierten Befehlsstrukturen bis zum Verlassen der militärischen Unterkunft. Leutnant Walter Borell aber hatte am Tag der Kapitulation alle Dienstgrade vom Militärdienst entbunden. So gingen sie in Kleingruppen. Eine Zwei-Mann-Gruppe erinnere ich besonders: Es waren der Funker und Klavierspieler Topf, von großer kompakter Statur , eben von Maxes Kost wohlgenährt wie alle anderen auch, mit einer ausgewachsenen Glatze und "bebrillt" mit einer damals üblichen runden Brille mit dicken Gläsern im schwarzen Metallrahmen. Er hatte sich mit dem Funker und Telefonisten Krebs zusammengetan; Krebs war wesentlich kleiner, hinkte infolge einer Schussverletzung des rechten Kniegelenks, das er nicht mehr strecken oder durchbiegen konnte. Sein Gang erweckte den Eindruck einer Schaukelbewegung von aufrecht nach rechts, weil die dauerhafte Kniekrümmung eine beträchtliche funktionale Verkürzung des Beines bewirkte. Ihre Habseligkeiten hatten sie in einem neuen verzinkten 50-l-Toiletteneimer verstaut. Das war der letzte unbenutzte Eimer aus dem Magazin im Holzschuppen an der östlichen Seite des kleinen geschotterten Kommandoplatzes.
In diesen 50-l-Kübeln wurde üblicher Weise das sogenannte "Marinegold" geschleudert, immer dann, wenn denn richtige Füllstand erreicht war. Da es für alles einen Befehl gab, hieß es dann: "Raustreten zum Marinegold-Schleudern!", meistens schon am Ende der morgendlichen Befehlsausgabe. Es war ein Vier-Mann-Kommando: zwei Kuhlen-Gräber, zwei Träger. Zuerst wurde die Kuhle weit entfernt in Richtung "Appel geborene Obst" (Haus Meerfried) ausgehoben. Nach der beim Spieß, Unteroffizier mit Stolz zur Schau getragener Schützenschnur, Hans Lederer erfolgten Vollzugsmeldung "Kuhle ausgehoben" folgten die beiden Kübelträger bei vorsichtiger Gangart mit dem Kübel zwischen sich und häufigerem Absetzen des Kübels zum Seitenwechsel der tragenden Hand. Nach umsichtiger Entleerung des Kübels bei Spritzer freiem Über-die-Kante-gehen des Marinegoldes deckten die Kuhlen-Gräber das Loch mit reichlich Erde ab. Aktion "Marinegold-Schleudern" beendet.
Von weiteren Bewohnern und dem Leben auf der Funkmessstelle
Von den sehr wahrscheinlich in den Kral gezogenen Soldaten zum Vollzug der endgültigen Entlassung aus dem Militärdienst einschließlich Aushändigung der Entlassungspapiere durch die englische Besatzungsmacht kam niemand nach Dahmeshöved in die Baracke zurück, von wenigen Ausnahmen abgesehen und lange nach Kriegsende.
Der ehemalige Koch der Funk-Mess-Truppe Max Köhler blieb bis zur Aufhebung des Reiseverbotes im März 1946. Er verdiente sich sein Geld mit Gelegenheitsarbeiten beim örtlichen Schlachter Fritz Th. Lehmbeck, rund um den Winter 1945/46 als Hausschlachter und Wurstmacher. Die erste Wurst in Dahmeshöved machte er für die beiden ehemaligen rheinländischen Fürsorgerinnen Else Hackenjost und Erna Theopold. Für seine Arbeit als Hauschlachter ließ er sich in Naturalien bezahlen. Von den geschlachteten Schweinen nahm er sich die Innereien und verarbeitete den Mägen zu Würsten, die er dann für seinen Lebensunterhalt verkaufte.
Seine Frau aus Bernburg an der Saale kam einmal zu Besuch. Zusammen waren die beiden in ihrer Erscheinung ein wahrliches Kontrastprogramm. Maxe war beim Antreten zum Appell immer der Letzte am Ende der Front, weil der mit Abstand Kleinste gewesen. Allerdings war er kein Spiddelfix, vielmehr und trotz seiner geringen Größe in seiner Rundum-Ausdehnung beachtlich kompakt. Seine Frau erschien dagegen neben ihm wie eine Walküre aus der germanischen Mythologie, die aussah, als ob sie zeitgleich zwei im Kampf gefallene Helden in die ersehnte Ruhmeshalle nach Walhall tragen könnte. Seine Frau blieb nicht allzu lange und reiste allein nach Bernburg zurück. Maxe wohnte dann wieder irgendwo im Dorf allein, tauchte selten und unerwartet in Dahmeshöved auf. Ansonsten erfuhren wir hin und wieder durch Hörensagen etwas über ihn. Irgendwann und ohne Erklärung machte er sich auf und davon in ein neues anderes Leben.
Der erste Kommandant der Funk-Mess-Einheit und vor Kriegsende noch zum Leutnant beförderte Walter Borell du Vernay aus Kiel studierte nach dem Zusammenbruch Kunst in Kiel und kam nach dem Studium zurück nach Dahme: Er war wohl zu der Zeit schon verheiratet mit Thea Bente, Tochter des Besitzers der Dahmer Schlachterei Fritz Th. Lehmbeck. Nach dem Kriege wurde er der erste Kurdirektor des Ostseebades Dahme. In der Zeit von 1951 stellte er entscheidend und nachhaltig wirksam die Weichen für die Entwicklung des Ostseebades Dahme zu einem erfolgreichen Platz auf dem Weg in eine neue Zukunft. Dieser Aufbruch der Bäderentwicklung in die Moderne wurde 1972 nach über zwanzigjähriger erfolgreicher und wegweisender Tätigkeit als Kurdirektor des Ostseebades Dahme durch seinen zu frühen Tod unterbrochen. Walter Borell du Vernay ist auf dem Friedhof von Grube begraben.
Unteroffizier Hans Lederer war Stellvertreter des jeweiligen Kommandanten der Funk-Mess-Einheit: zunächst von Oberfunkmeister Walter Borell, danach von Oberfunkmeister Rudolf Mühle aus Thüringen, dann wieder bis zum Kapitulationstag vom inzwischen zum Leutnant beförderten Walter Borell. Lederer war bei Kriegsende 26 Jahre alt. Er war evangelischer Schwabe aus Schwabach bei Nürnberg.
Die neuen Bewohner - Flüchtlinge
Nach der Räumung der Baracke der Funk-Mess-Einheit wurden Flüchtlinge und von Ausbombung Betroffene in die leerstehenden Räume der ehemals militärischen Unterkunft eingewiesen. Unter diesen war eine verwitwete Enddreißigerin Sabel aus Gelsenkirchen mit einer 16-jährigen Tochter Gisela Sabel und einem 8-jährigen, Häsa genannten Jungen. Frau Sabel ging mit Hans Lederer eine Lebensgemeinschaft ein. Sie bezogen bei Lederers vorteilhafter Orts-Kenntnis die provisorisch zu einer Wohnung umfunktionierten Räume im nördlichen, zur Straße hin gelegenen Teil der Baracke einschließlich der ehemaligen Kombüse mit Herd und allen Kochgerätschaften. Später zogen Lederer und Frau Sabel mit Kindern bis zu ihrem Verlassen von Dahmeshöved in die oberen Wohnräume von Schröders Garten-Cafe. Frau Sabel und Hans Lederer bekamen dort noch ein gemeinsames Kind.
Irgendwann verzogen sie von Dahmeshöved und ihre Spur verlor sich. Dann Ende der fünfziger Jahre machte er im Sommer mit seiner Frau- nicht Frau Sabel- einen Besuch bei meiner inzwischen ins väterliche Haus in Dahme verzogenen Mutter und ihrem Lebensgefährten Robert Fach. Hans Lederer betrieb zu der Zeit in seiner Geburtsstadt Schwabach bei Nürnberg einen Fußbodenverlege-Betrieb.
Den Mittelteil der Baracke bezog nach ihrer Einweisung die Familie Gabriel mit der Mutter Minna und den erwachsenen Kindern Erika, Gerda, Herbert und den schulpflichtigen Jungen Ewald, Helmut und Hermann. Der Vater Emil Gabriel stieß infolge der im „Kral“ zu beachtenden Entlassungsregelungen noch im selben Jahr dazu.
Im südlichen Teil der Baracke zog die Familie von Emil Müller mit Ehefrau und Kindern ein. Die älteste Tochter Friedel, damals 28 Jahre, mit ihrer 6 Jahre alten Tochter Petra lebte bei ihren Eltern. Friedel lebte mit dem ehemaligen deutschen Wehrmachtsoberleutnant Hans Warras von Maltzahn zusammen. Er war im Zivilberuf Diplom-Sportlehrer gewesen. In Dahme brachte er sich aktiv als Trainer und Spieler in die örtliche Handballmannschaft ein. Es wurde zu der Zeit noch Feldhandball gespielt, zweimal sogar gegen die Mannschaft des THW Kiel mit dem legendären Handballer Hein Dahlinger. Als die Familie Müller wegzog, zog Hans Warras nach Hamburg. Er hat seine damalige Partnerin Friedel nicht geheiratet. Friedel hat meine Mutter noch hin und wieder im Sommer besucht, als sie 1962 zu ihrer Mutter nach Dahme gezogen war.
Die 26-jährige, attraktiv rot eingefärbte Tochter Lotti lebte mit ihrem 5-jährigen unehelichen Sohn Boris in einem Zimmer der elterlichen Wohnung, war aber ständig unterwegs. Gegen Ende der Zeit in Dahmeshöved soll sie mit einem kanadischen Luftwaffenoffizier liiert gewesen sein, der sie später geheiratet haben soll.
Die dritte Tochter hieß Leni und war damals 15 Jahre alt. Zu ihr hatten wir einen guten Kontakt, weil sie meine Mutter häufig am Nachmittag besuchte und gern bei Arbeiten behilflich war. Sie war ein sehr hübsches Mädchen wie übrigens auch die beiden älteren Schwestern. Sie soll später Filmschauspielerin geworden sein und einen vermögenden Mann geheiratet haben. Der Jüngste der Familie war der damals 9-jährige Hubert, der schon in diesen jungen Jahren ein guter Sportler und begabter Handballer war, gut angeleitet und sportlich begleitet von Hans Warras.
Doch bis zum Wegzug der Familien aus der Baracke dauerte es seine Zeit. Sie fanden anderenorts keine Wohnung, weder Lederer in Schwabach, noch Müller in Hamburg, weil dort wie in den meisten zerbombten Großstädten strengste Wohnungsbewirtschaftung betrieben wurde; niemandem wurde der Zuzug genehmigt, es sei denn, er konnte eine Wohnung nachweisen, ganz zu schweigen von den Gabriels aus Westpreußen. Und nicht nur deswegen: kein Soldat durfte nach Anordnung der Alliierten das Internierungsgebiet mit strengen Kontrollen ohne gültige Erlaubnis verlassen. Davon gab es im „Kral“ etwa 570 000 ehemalige Wehrmachtsangehörige. Diese Regelung wurde erst am 21. März 1946 aufgehoben.
So nahmen die Dinge in Dahmeshöved ihren eigenen Lauf, verursacht und geprägt von einer Zeit der heute unvorstellbaren Not, der Unzugänglichkeit zu einer lebensnotwendigen Bedürfnis-Sicherung bei einer nur annähernden Grundversorgung mit Nahrung, Brennmaterial und Bekleidung. Die Leute fielen vom Fleisch, alle Anzeichen einer Unterernährung dominierten bei den meisten Mitbürgern unverkennbar die Wahrnehmung. Andererseits gab es mehr schwangere Frauen in der öffentlichen Wahrnehmung - vielleicht als Folge des biologischen Grundsatzes: Wenn ein lebender Organismus (hier Volk) in seinem Bestand angegriffen wird, streben sämtliche Funktionen nach Fortpflanzung. Nicht zu vergessen die schon immer wirksame Dauer-Motivation bei den Armen und Ärmsten der Bevölkerung: Dat Tausommenkrupen is de lütten Lüüd ehr Taubrot! Und sie konnten wieder zusammenkriechen, denn etliche der eingezogenen Männer, soweit sie nicht gefallen waren oder in Kriegsgefangenschaft gerieten, waren von den Fronten zurückgekehrt.
Als bald nach der Kapitulation wegen des fehlenden oder nicht ausreichend verfügbaren herkömmlichen Brotgetreides Brot aus Maismehl gebacken wurde, sang man, sangen auch wir als Kinder, noch in Unkenntnis der paarungsbiologischen Vorgänge, unreflektiert zu diesem Phänomen das schnell in Umlauf gekommene Lied: "Der Mais ist gekommen, die Bäuche schwellen an" - wenig respektvoll, überhaupt nicht kausal.
Müller und Lederer waren Persönlichkeiten besonderer Prägung wie übrigens viele in dieser Zeit des gesellschaftlichen und menschlichen Notstandes: sie hatten ihre eigene Sicht und Bewertung der Dinge in dieser neuen Zivilgesellschaft nach dem Zusammenbruch und des totalen Umbruchs. Vorrangig war der/das Primat der Grundversorgung der eigenen Familien. Dieser Vorrang ließ oftmals die gesetzlich-rechtliche Seite von Absicht und Handlung in den Hintergrund treten. So entwickelten sich die beiden Männer in einer Pflichtenkollision zu Männern eines vorrangigen Handelns außerhalb der geltenden Rechtsnormen. Outlaws mit verständlicher, aber nicht immer entschuldbarer Motivation eben. Nur Mundraub war nach wie vor von der moralischen Zensur ausgeschlossen.
Bei aller Rechts- und Gesetzestreue muss man den beiden wie auch Hunderten und Tausenden anderen mit einer zur damaligen Zeit angemessenen Gewichtung ihrer rechtlich Fehlverhalten zu dieser Zeit des akuten Versorgungsnotstandes begegnen.
Notschlachtung
Emil Müller war in Dahmeshöved und im Dorf als Nazi-Müller, Müller-Deutschland und Schieber- Müller bekannt. Er war eine selbstbewusste Persönlichkeit von kräftigem Körperbau bei einer Größe von etwa 1,75 m mit markantem Kopf mit dichtem grauem Kopfhaar und dichte buschige Augenbrauen wie der Finanzminister Theo Weigel. Der Beiname Nazi-Müller mag durch eine intensive Einbindung in den nationalsozialistisch ausgerichteten Reichsarbeitsdienst RAD oder eine besondere Führungs-Funktion in dieser Organisation entstanden oder ihm angelastet worden sein. Er war gebürtiger Kölner und schon vor dem Ausbruch des Krieges mit dem RAD nach Ostholstein gekommen, wahrscheinlich zunächst nach Cismar, ab Januar 1937 nach Grube. Er hatte vermutlich bis zum Zusammenbruch des Dritten Reiches eine Funktion beim RAD in Grube.
Niemand in Dahmeshöved hatte etwas Verbindliches darüber erfahren oder wusste etwas Genaueres. Der RAD (Reichsarbeitsdienst) als paramilitärische Einheit lebte wie besonders alle militärischen Einheiten der Gegend in relativer Abgeschlossenheit in seinen sechs Baracken am Konzer Berg in Grube. Jedenfalls wurde gemutmaßt und geredet. Die Lateiner sagten: …aliquid haeret – es bleibt immer etwas hängen. Das mag auch auf ihn zugetroffen haben – und irgendeiner aus dem Dorf hat möglicherweise etwas gewusst, gehört oder Vermutetes in Umlauf gebracht. Ein bisschen Vages reicht immer als Kondensationskern für ein Gerücht! Ob seine Familie schon zu seiner RAD-Zeit in Grube gelebt hat oder nachgezogen ist, war nicht bekannt. Der Beiname Müller-Deutschland wird sich wohl neben seinem wiederholten Bekenntnis zu Deutschland auch aus seiner extremen Mobilität erklären. Auf jeden Fall und ohne Zweifel war er ein Organisator und Macher.
Autos gab es zu der Zeit kaum im Privatbesitz, Motorräder wurden schon eher und auf dem Schwarzen Markt bei den Polen und Letten in Neustadt „organisiert“, dafür besaßen Leute häufiger ein Fahrrad oder fahrbare Untersätze, die als solche bezeichnet wurden. So fuhr Emil Müller auf den Hamster- und Beschaffungstouren in sich ständig erweiternden Kreisen durch Ostholstein wie ein Prärieindianer durch seine Jagdgründe, um den Stamm zu versorgen. So wurde er als Schieber-Müller bekannt.
Sehr bald war Müller Besitzer eines neuen Transportfahrzeuges, eines zweirädrigen rundum geschlossenen Kastenwagens aus Eichenholz mit einer längeren stabilen Deichsel, damit dieser ihm beim Ziehen und Ausschreiten nicht in die Hacken lief. Diesen hatte er sich für anstehende Transporte aller Art vom Stellmacher Fritz Babbe anfertigen lassen. Rechts und links der Deichsel befand sich in der Mitte der Bodenplatte ein geschmiedeter Metallring vom Schmied Max Stoll für eine Zugleine mit einem Schultergurt.
Emil Müllers kostbarste und fetteste Fracht war ein Schwein, das er und Gustav-Schlachter, Geselle beim Schlachter Fritz Th. Lehmbeck, im Winter 1945 in Kitzerau‘s Scheune neben dem Strandhotel geschlachtet hatten. Sehr originell und pfiffig übrigens, wie es die halbwegs respektvollen Darstellungen danach in Umlauf brachten. Zur Zeit des Schwarzschlachtens lief im Saal vom Strandhotel ein Film, in dem kräftig geschossen wurde. Das war Emil Müller und Gustav-Schlachter bekannt, und sie machten dieses Wissen zum Kernstück ihrer beabsichtigten Schwarzschlachterei. Im Übrigen war es nicht nur Schwarzschlachterei, es war auch obendrein ein dreister Diebstahl in Tateinheit mit der Tötung eines Haus- und Nutztieres.
Und so lief die Tat von der Planung bis zur Vollendung und dem sicheren Transport ab: Gustav-Schlachter befand sich beim Schwein in der Scheune, Emil Müller stand als Lauscher an einem der Fenster unter dem Kinosaal. Zwischen beiden befand sich eine Verbindung aus Baumhüter Bindegarn für Selbstbinder. Es war zwischen den beiden verabredet, dass bei den Schießgeräuschen des Films Emil kräftig am Bindegarn ziehen und Gustav nahezu synchron das Schwein erschießen sollte. So folgte beim ersten Kinoknall die Tat auf dem Fuße, wie man so sagt. Das Schwein fiel, wurde abgestochen und sollte ausbluten. Das Schwein wurde dann auf den Kastenwagen verladen.
Nach allen Seiten horchend und sichernd, vergewisserten sich die beiden, dass die Tat unentdeckt geblieben war. Dann ging der Heimtransport im neuen Kastenwagen in dunkler Nacht nach Dahmeshöved. Bei der Kälte war die Dorfstraße wie leergefegt, Beleuchtung durch Straßenlaternen gab es zu der Zeit nicht im Dorf. So kamen sie unerkannt zur Baracke nach Dahmeshöved. Allerdings hatten sie ihre Rechnung ohne das Zusammentreffen nicht kalkulierbarer oder unvorhersehbarer Umstände gemacht. Sie hatten nicht erwartet, dass es in der Schlacht-, Verlade- und Transportphase leicht geschneit hatte. Doch schlimmer war, was ihnen dann erst bewusst wurde, als alles zu spät war: Das Schwein war nicht ganz ausgeblutet. Das restliche Blut war in den Kastenwagen gelaufen. Der Kastenwagen war nicht ganz dicht und so war das Blut tröpfelnd oder als dünnes Rinnsal durch das Leck im Boden des Wagens in den Neuschnee gelaufen.
Am nächsten Morgen wurde die Tat entdeckt und bei der Polizei angezeigt. Der stattliche Polizeimeister Konik aus Ostpreußen, wohnhaft in der Pension Bernhard Reshöft, ermittelte. Er war vor der Kitzerau‘schen Scheune auf die Abdrücke der Räder im Schnee gestoßen (worden). Sie allein wären noch kein sicheres Indiz gewesen, aber das frische rote Blut zwischen den beiden Radspuren genügte für mehr als einen Anfangsverdacht. So brauchte Polizeimeister Konik nur der Blutspur im Schnee nachzugehen.
Jürgen Warncke sah gegen 09.00 Uhr zufällig aus dem Fenster von Haus „Sonne und Meer“ und nahm Polizeimeister Konik wahr, als dieser unten auf dem Lehmweg in Richtung Dahmeshöved vorbeiging, den Tschako-bewehrten Kopf leicht nach vorn geneigt, offensichtlich den Blick auf die Rad- und Blutspuren im inzwischen leicht verharschten Schnee gerichtet. Die Spuren endeten in Dahmeshöved vor der Barackentür von Emil Müller.
Als Jürgen, noch voller gespannter Neugierde und Erwartung, immer mal wieder aus dem Fenster blickte, denn Konik musste ja irgendwann zurückkommen, sah er gegen 12.00 Uhr Polizeimeister Konik und Emil Müller nebeneinander auf dem Weg am Haus vorbeigehen. Emil Müller hing im Zugseil und zog den zweirädrigen Karren hinter sich her, mitten darauf eine verzinkte Wanne, bis über den Rand hinaus mit dem inzwischen schon fachgerecht zerlegten Schwein gefüllt. Die schwarz geschlachtete Beute wurde beim rechtmäßigen Besitzer in der Schlachterei von Fritz Th. Lehmbeck abgeliefert.
Polizist und Schlachter hatten bei diesem Fall leichtes Spiel gehabt: Konik eine schnelle Ermittlung mit zweifelsfreier Überführung zunächst eines der Tatbeteiligten, der Schlachter Fritz Th. ein fachgerecht zerlegtes Schwein ohne Arbeitsaufwand und somit fertig zum sofortigen Verkauf.
Gustav-Schlachters raffinierte Schlachtvariante war wochenlanger Gesprächsstoff im Dorf. Die Bewertung war ambivalent: Einerseits konnten die meisten Leute sein Verhalten nicht verstehen, hatte er doch mit Erfolg bei Fritz Th. gelernt, galt als sein bevorzugter Geselle und genoss das absolute Vertrauen seines Meisters, das er mit dieser Aktion so abgrundtief missbraucht hatte. Andererseits gab es bei aller Verwerflichkeit der Tat keine lauthals geäußerte Schadenfreude über ihre schnelle Tatüberführung. Vielmehr genossen Emil Müller und Gustav-Schlachter bei den Not- und Hungerleidenden im Dorf unterschwellig so etwas wie den Robin-Hood-Effekt, eher mitfühlende Frustration als neidvolle Verdammnis. – Wir als Kinder entwickelten eine geschärfte Wahrnehmung und gewannen so diesen Eindruck aus dem Gerede der Erwachsenen. Lebensbedrohlicher Hunger und Not hatten den rechtlich-moralischen Maßstab in der Bevölkerung verändert. Die in dieser Notzeit beibehaltene Lebensmittelkarte hieß nicht von ungefähr „Sterbekarte“.
Kartoffelklau
Emil Müller wurde ein „guter Freund“ meines Großvaters; mein Großvater hielt ihn jedenfalls für einen solchen. Er kam abends immer zum Kartenspielen, mitunter auch zufällig und „zu seinem großen Bedauern“ zur Abendbrot-Zeit. „Honi soit, qui mal y pense!“ Meist spielten sie zu zweit Kutscherskat. Wenn meine Großmutter die Milch zum Buttern vorbereitet hatte, kam sie mit in die Runde, dann wurde „66“ gespielt. Manchmal kam auch meine Mutter dazu, nachdem sie uns drei Kinder zu Bett gebracht hatte. Sieh beteiligte sich nie, wurde auch nicht zum Mitspielen animiert oder eingeladen. Vom Rand der Runde verfolgte sie das Spiel und dessen Akteure und ging dann beizeiten wieder. Ebenfalls die Kartenspieler schlossen ihre Runde gegen neun Uhr an den Herbstabenden mit schon früh hereinbrechender Dunkelheit ab. Emil Müller ging den kurzen Weg, etwa 200 Meter, nach Hause zur Baracke. Großvater Heinrich ging jeden Abend seine Runde, auch wenn er keinen Wachdienst hatte. Nie vergaß er zu dieser Zeit einen Gang zu seinem Kartoffelacker, auch wenn es noch so dunkel war.
Am Morgen nach einem dieser Kartenabende traf meine Mutter ihren Vater im Flur und sagte zu ihm: “Vadder, de Möller hett wat an sick, de is ne echt, woahr di vör den’n.“ Der Alte (de Ool, so nannten sie ihn hinter seinem Rücken) protestierte spontan, wollte sein Bild von seinem neuen „Freund“ Emil Müller nicht in Frage stellen oder schmälern, wohl auch in sich selbst gar keinen Argwohn aufkommen lassen, hatte im Übrigen auch kein Anzeichen dafür, sich in seiner Wertschätzung geirrt zu haben.
Nach einem solchen Kartenabend vor Beginn der Kartoffelernte ging der Großvater Heinrich auf seinem abendlichen Rundgang zuerst zum Kartoffelacker, der dicht an den Knick zur Straße grenzte. Davor lag eine Wiese für das regelmäßige Beweiden von Berta, seiner schwarzbunten Kuh und beachtlichen Quelle unseres bevorzugten Ernährungswohlstandes. Die Dunkelheit war längst vollends hereingebrochen. Am stallnahen Rand der Wiese zog er seine Holzpantoffeln aus, um sich möglichst unhörbar bewegen zu können. Dann ging er leise auf schafwollenen Socken weiter bis an den Rand des Kartoffelackers. Nach ein paar Schritten meinte er, etwas schwach Helles zwischen dem Kartoffelkraut gesehen zu haben. Er verhielt im Schritt, atmete leise und verhalten und beobachtete scharf. Dann machte er die Bewegung zweier Hände aus, die sich im Wechsel vor und zurück bewegten.
Die blitzschnelle Erkenntnis war zweifelsfrei: vor ihm versuchte jemand, seine Kartoffeln mit den Händen auszubuddeln. Nach zwei schnellen Schritten und einem Sprung in Richtung der weißen Hände landete der Großvater auf dem Rücken des Kartoffeldiebes und griff fest zu. Der unter ihm Liegende war reaktionsschnell und offensichtlich kräftig. Trotz des festen Klammergriffes zerrte der Ertappte, inzwischen aufgerichtet, vorwärts. Es gab ein Geräusch von reißendem Gewebe, der Arm des Großvaters fiel zurück gegen seien Körper, in der immer noch geschlossen Faust ein Stück Stoff. Heinrich hörte das Geräusch der Schuhe im Kartoffelkraut, ein Rascheln der Sträucher im Knick, noch schwach die schnelle Folge der verhallenden Auftritte von Schuhen auf dem Lehmweg hinter dem Knick – dann war Stille. Noch ehe er hatte nachsetzen können, war der Kartoffeldieb ihm durch ein häufig benutztes Schlupfloch im Knick entkommen - ohne Kartoffeln.
Dem Großvater verblieb der Stofffetzen, ein Unikat von einem Beweisstück, wie der Schlussstein in einem Puzzle sozusagen. Doch wem gehörte der dazu passende Pullover? Wo und wie sollte man danach suchen? Anzeige zu erstatten, war sinnlos, weil ein Ermittlungserfolg gleich null war. Polizeimeister Konik war ohnehin überlastet mit derartigen Ermittlungen. Wo in der Gegend Kartoffeln angebaut waren, forderten diese Kartoffeldiebe heraus. Die Bauern ließen ihre Kartoffelschläge nachts durch Aufpasser bewachen, deren Lohn in Naturalien abgegolten wurde.
Auch das Leben am Leuchtturm ging weiter. Der Großvater berichtete in der Kartenrunde über den Vorfall. Emil Müller als abendlicher Gast war sehr empört darüber, konnte aber nicht mit Informationen oder zielführenden Mutmaßungen weiterhelfen. Im Übrigen war ja über den Versuch des Kartoffeldiebstahls hinaus nichts passiert. Es passierte bis zur Kartoffelernte auch nichts mehr, der Dieb war offensichtlich gewarnt. Bei meiner Mutter Hermine allerdings verdichtete sich beim wiederholten Besehen des Stofffetzens ein Verdacht zur persönlichen Gewissheit: Der Stofffetzen musste Teil von Emil Müllers Pullover sein, den er häufig an den Spielabenden getragen hatte. Sie äußerte ihren Verdacht ihrem Vater gegenüber. Sie drängte ihren Vater, seinen „Kartenfreund“ Müller zu fragen, weshalb er den gefälligen Pullover nicht mehr trüge. Mein Großvater folgte dem Rat seiner Tochter. Alle staunten nicht wenig, als dieser ihnen seine Geschichte vom Pullover vortrug: Müllers Frau habe den gewaschenen Pullover mit anderen Wäschestücken auf die Leine gehängt und über Nacht hängen lassen. Am nächsten Morgen sei der Pullover nicht mehr auf der Leine gewesen – das gute Stück sei sehr wahrscheinlich gestohlen worden. Der Teufel soll seine Großmutter erschlagen haben, weil er keine Ausrede mehr wusste; Emil Müller hatte spontan eine Ausrede, die ohne Argwohn und Zweifel glaubhaft in diese Zeit passte.
Telefonmasten-Klau
Neben einer Grundversorgung mit Nahrungsmitteln fehlte es auch an Heizmaterial jeglicher Art. Der Winter 1945/46 brach schon sehr früh mit extremer Kälte herein. Die Ostsee fror sehr schnell zu. Man konnte zu Fuß über das Eis an die mecklenburgische Küste gehen, nach Boltenhagen oder Wismar. Dichtes Schneetreiben und eisige Winde von Nord bis Ost erzeugten eine „schneidende“ Kälte, machten die Aufenthalte im Freien fast unerträglich. Niemand unterschied zu der Zeit zwischen gemessenen und gefühlten Temperaturen. Bei der dürftigen und unzureichenden Winterbekleidung ging die Kälte „durch Mark und Bein“. Das war verdammt fühlbar! Niemand ging vor die Tür, wenn er oder sie keinen unaufschiebbaren Grund hatte. So blieben die meisten innerhalb ihrer vier Wände. Und in diesen war es meistens auch nicht hinreichend, selten genug gemütlich warm. Schon von draußen konnte man auf die Innentemperaturen schließen. Dicke Eisblumen schmückten die Scheiben der einfach verglasten Fenster - von außen schön anzusehen –, die Kälte innen war kaum zu ertragen.
„Not kennt kein Gebot“ lautet ein altes Sprichwort, dessen Entstehung zurückgeht bis in die altgriechische und römische Rechtsphilosophie. Und so kommt es in extremen Notzeiten wie diesen nach dem Zusammenbruch zu Handlungen an geltendem Recht vorbei. Die Notleidenden entscheiden in ihrem Dilemma, was für sie entgegen allen Normen notwendig ist, was für sie in dieser besonderen Lage die „Not wenden“ kann. Entsprechend handeln sie, die Verantwortlichen in den Familien, und schreiten zur Tat.
Heizmaterial ist gefragt, Brennbares muss her! In der ersten Zeit nach dem Krieg gibt es selten Kohlen, Holz wird in geringen Mengen von der Forstverwaltung durch den Oberförster Herzberg in Kellenhusen zugeteilt. Sammelholz in den Waldungen gibt es bald nicht mehr. So helfen sich die Leute selbst und „organisieren“ Holz, wo sie nur Zugang dazu finden. Selbst vor Nachtschränken, Bettgestellen und Treppengeländern in den zwangsbelegten Hotels und Pensionen in Dahme, wahrscheinlich auch in Kellenhusen und anderswo wird kein Halt gemacht. Mein Großvater Karl Landschoof musste nach dem Auszug des letzten Zwangseinquartierten in seinem Pensionshaus das Treppenhaus mit neuem Treppengeländer versehen und die Zimmer neu teilmöblieren. Im Kellenhusener Forst wird die zahlenmäßig verstärkte Rotte der Waldarbeiter durch den Oberförster Herzberg dazu verpflichtet, auch nachts aufzupassen und zu verhindern, dass Holz gestohlen wird.
Die Knicks in Dahmeshöved bargen gutes Brennholz und waren unbewacht. Frau Appel vom Haus Meerfried zog im schneereichen Winter 1945 in der Dunkelheit mit einer Säge los, um sich aus den Knicks in der Nähe ihres Hauses Brennholz zu verschaffen. Sie beschreibt diese Brennholzbeschaffung als kräftezehrendes Unterfangen für eine Frau. Sowie sie ihr Grundstück verlassen hatte, versank sie bis zum Bauch im Schnee und musste sich zu ihrem am Tag schon ausgewählten „Bäumchen“ durchkämpfen. Infolge der Mangelernährung hatte sie unter Aufbietung aller ihrer Restkräfte zu sägen, bis das Bäumchen von Stumpf getrennt war.
Der Rückweg war nicht minder schwer, nachdem sie ihr künftiges Heizmaterial aus dem Knick gezerrt und durch den hohen Schnee hinter sich her nach Hause gezogen hatte. Das Zurechtsägen auf ofengerechte Länge fand auf der Veranda und der Diele im Haus statt. Das Anzünden und in Brandsetzen des nassen Holzes war eine Sache für sich und erforderte Finesse, Übung und Geduld. Sie hatte bis zur heizfreien Zeit des nächsten Jahres ein volles Beschaffungsprogramm für sich selbst und ihre vierjährige Enkelin Heidrun. Nach den Aussagen der Enkelin wurde am Tage nur spärlich in einer zu dieser Mangelzeit holzsparenden sogenannten „Brennhexe“ im kleinsten Zimmer von Haus „Meerfried“ geheizt. Nachts schliefen ihre Großmutter Irmgard Appel und Enkelin Heidrun in einem Bett zusammen und wärmten sich gegenseitig. Es wurde für Frau Appel erst leichter, als ihr Sohn Hilmar nach seinem Dienst als Maschinist bei der Kriegsmarine aus dem Krieg heimgekehrt war, nachdem er zuvor von englischen Soldaten der Besatzungsmacht ausgeplündert worden war und nur mit dem nach Dahmeshöved zurückkahm, was er auf dem Leibe trug. Hilmar half seiner Mutter nach Kräften.
In Dahmeshöved waren zwei weitere nachtaktive Holzbeschaffer am Werk: Emil Müller und Hans Lederer, ehemals Unteroffizier und „Spieß“ der Funk-Mess-Einheit, als solcher schon vorgestellt. Bevor ihre Aktivitäten offenbar wurden, hatte mein Großvater Heinrich Paustian auf dem Leuchtturm festgestellt, dass das Diensttelefon nicht funktionierte. Als Ursache hatte er einen technischen Defekt des Telefons angenommen. So blieb es vorerst: Der Leuchtturm Dahmeshöved war über Fernsprecher nicht erreichbar, zur zuständigen vorgesetzten Dienststelle Wasser- und Schifffahrtsamt Kiel konnte kein Fernsprech- Kontakt hergestellt werden. Eine Dokumentation dieses Vorkommnisses erfolgte als Eintragung im Leuchtturm-Journal. Statt telefonischer Berichte gab es diese fortan in handschriftlicher Form mit schwarzer Eichengallen-Tinte auf dienstlich geliefertem Papier. Der Postbote Max Klütmann, zweitältester Sohn des früheren 1. Leuchtturmwärters Matthäus Klütmann, besorgte den Rest.
Irgend jemandem war aufgefallen, dass zwischen dem Leuchtturm und der Flugwache (auf Judenbargen / heutiger Platz der Jugendherberge Dahme) die Abstände zwischen den Telefonmasten größer geworden waren. Beim Abgehen der Strecke wurde es offenbar: Wo vorher ein Mast gestanden hatte, ragte dicht über dem Boden nur noch ein kurzer Stumpf mit Schnittfläche hervor, an den Rändern schwarz-braun vom tief eingedrungenen Steinkohlenteer-ÖL, zum Kern hin eine hellere rötlich-gelbe Holzfärbung. Jürgen Warncke war in der Knickstrecke gegenüber vom großväterlichen Haus „Sonne und Meer“ auch das Fehlen von Telefonmasten aufgefallen. Die Sägeflächen der von ihm entdeckten Stümpfe waren alle mit gerupftem trockenen Gras überdeckt: eine andere Täterhandschrift, die den Schluß auf verschiedene Täter zuließ. Diese zu ermitteln war nun Aufgabe des Polizeimeisters Konik aus Dahme.
In dieser Zeit der Not mit moralischen Verirrungen und Verstrickungen und rechtlichen Verfehlungen gab es für den Ordnungshüter Konik eine Häufung von Delikten. Ihre Vielfalt bescherte ihm auch Routine in der Ermittlung und „einen Blick“ für die Täter. So machte er sich nicht von ungefähr auf den Weg nach Dahmeshöved zu seinen „bevorzugten“ Verdächgtigen, sprich: sicheren Garanten für seinen Ermittlungserfolg.
Konik ermittelte mit allen Sinnen. Schon am Leuchtturm kam ihm der unverkennbare Geruch von verbranntem geteerten Holz in die Nase. Als er um die Ecke Richtung Schröders Gartencafe bog, lag zur Linken die Baracke vor ihm. Aus den Schorsteinen von Emil Müllers und Hans Lederers Wohnung stieg kräftiger schwarzer Rauch auf mit eindeutig strengem Teergeruch. Polizeimeister Konik war sich sicher, am Ziel zu sein. Der Rest war Sache der Ermittlung und Beweissicherung. Bei Emil Müller fand er reichlich zerkleinertes Holz von Telefonmasten als Brennvorrat innerhalb der Baracke. Das Absägen der Telefonmasten am Weg nach Dahme wurde nicht bestritten. Über eine Strafe und ihre Verbüßung wurde nichts bekannt.
Nach diesem Versorgungscoup mit den Telefonmasten wählte Emil Müller ein anderes Revier. Mit Holzkarren, Säge und Beil zog er zum Holzmachen ins Dahmer Moor, insbesondere ins angrenzende Dünengelände. Jürgen Warncke wurde Zeuge, als Hans Warras im Dünengelände eine stärkere Birke absägte. Müllers älteste Tochter Friedel assistierte und der Vater Emil stand ein paar Schritte daneben und gab fachkundige Anweisungen. So wurde in den wirksamen Schutz der Dünen eingegriffen, für Müller aber gab es keine Güterabwägung für oder wider einen Eingriff in den Birkenbestand; er sah nur die Bedürfnisse der Familie, brauchte das Brennholz und ließ sägen.
Bei Hans Lederer und Frau Sabel gewahrte Konik das Unikum einer einfallsreich versteckten Holzlagerung im Schlafzimmer. Lederer hatte die Telefonmasten in Abschnitte zersägt, die die Länge der Breite eines Feldbettes hatten. So waren die Stücke alle quer und mehrlagig in die Feldbetten gepackt worden. Darüber lag die Seegras-Matratze, abgedeckt von Bettlaken und Bettdecke. Konik waren die ungewöhnliche Höhe der Matratze und die Enge zwischen Bettzeug und dem oberen Feldbett verdächtig vergekommen. Der Volksmund sagt: „Wie man sich bettet, so liegt man“. Wie wahr, vor allem in der Gewissheit, dass unter einem der Holzvorrat für eine warme Stube liegt. Lederers Sippschaft lag darauf wie auf einem Thron, von dem sie Polzeimeister Konik nun abrupt stürzte. Auch Lederer leugnete die Tat nicht. Das Strafmaß wurde nicht bekannt. Auf jeden Fall war Hans Lederer eine längere Zeit weg von Dahmeshöved. Häsa, Sohn von Frau Sabel, sagte auf Befragen von uns Kindern, dass Onkel Hans zur Erholung sei. Als Lederer dann irgendwann wieder vor Ort war, erschien er uns recht blass. Das war wohl die übliche Gesichtsfarbe nach längerem Erholungsaufenhalt der besonderen Art zu der Zeit, zu jeder Zeit.
Diebe von abgesägten Telefonmasten aus dem Dorf wurden nicht bekannt. Es muss aber etliche gegeben haben, denn bei aller kriminellen Energie, Aktivität und dem Brennholzbedarf konnten Müller und Lederer unmöglich allein die Telefonmasten auf einer Strecke von mindestens 1,5 Kilometern abgesägt haben. Wann die Telefonmasten neu gesetzt wurden und wie in der Zwischenzeit die Telefonverbindung wiederhergestellt und aufrechterhalten wurde, ist nicht bekannt. Den größten Teil des kupfernen Telefondrahtes hatten die Holzdiebe von den Isolatoren abgerissen und hinter die Knicks geworfen. Alles was ich an Kupferdraht gefunden habe, wurde aufgerollt und zuhause auf dem Schuppendach abgelegt. Nach der Währungsreform im Juni 1948 wurde Kupferdraht bevorzugt von den Schrotthändlern zu einem guten Preis aufgekauft. So wurde ich ein später Nutznießer der Aktion „Telefonmasten-Klau“.